In keinem anderen Land beherrscht die Wertediskussion so den Wahlkampf wie in der Schweiz. Der Franzose ist Citoyen, die Werte dazu sind seit Jahrhunderten klar. Der Italiener ist als Erstes Sippenangehöriger, dann vielleicht Norditaliener, Venezianer, Römer, und erst dann Italiener. Dagegen diskutieren die Eidgenossen zum Beispiel alle vier Jahre neu, was wirklich freisinnig ist. Ich weiss es jetzt dank dem Banntag. Freisinn ist eine sehr reale Mischung aus den oben genannten Werten mit einem kräftigen Schuss von «nichts ist unmöglich».
Die neun Sissacher Banntagsfrauen gehen jedes Jahr am Banntag auf ein eigenes Spassreisli. Während die Männer ihre Grenzen ausmachen, sind wir heuer auf Weltreise gewesen. Wir erlebten vor allem Asiaten, aber auch Russen, Inder, Muslime. Und all das im Schweizer Kernland – in Interlaken.
Wir hatten beim Sternekoch Richard Stöckli einen Kochkurs gebucht. Er erklärte uns die perfekte Zubereitung von Rösti und, wie hart das Leben eines Restaurantbesitzers angesichts der vielen Auflagen ist, die Bern wie einst der Gessler über den Gewerbetreibenden ausleert. Aber Gott sei Dank gibt es da ja die asiatischen Touristen, die jedes Jahr zuverlässig zahlreicher kommen und die Region in diesen krisenhaften Zeiten sogar vom Euro erlösen. Dafür legen die gewieften Einheimischen den Ricola-Slogan: «Wer hats erfunden?» ganz neu aus. Die Arbeitsplätze werden für Horden asiatischer Verkäuferinnen und Verkäufer freigemacht. In den Uhrengeschäften lächeln asiatische Models von den Plakaten. Pro Woche gehen Uhren bis zu 100 000 Franken über den Ladentisch, nicht zuletzt wegen der Provisionen, die die Ladenbesitzer an Reiseleiter zahlen, die ihre Cars direkt vor der Ladentür ausschütten. Die Interlakener belegen derweil Kurse im multikulturellen Umgang, denn Horden schwarz gewandeter Muslime können schon mal zur Belastung werden – auch fürs Landschaftsbild. Die Prachtstrasse von Interlaken gleicht mit Ausnahme des «Viktoria-Jungfrau» eher einem raumplanerisch fragwürdigen Freilandkaufhaus.
Könnte man aus Kutschpferden die Luft herauslassen, sie würden in Rollkoffern enden. Beliebt ist auch der Kauf ganzer Strassenzüge oder Hotels. Schliesslich sind Immobilien hier ein Schnäppchen im Vergleich zu einer Eigentumswohnung an Hongkongs bester Lage. Auf dem Flohmarkt vor dem Kur- zentrum wurde ich von Touristen im Stress rasch umfunktioniert: «What cost?» Gemeint waren Schiessabzeichen mit dem Schweizerkreuz auf dem Bändel, die geduldige Einheimische in radebrechendem Englisch neben Milchguggen, Häkeltopflappen und pseudoaltem Ramsch anbieten. Ich versuche mir vorzustellen, wie diese urchigen Abzeichen in einer chinesischen Grossstadtwohnung aussehen. Und frage mich, ob der Ausverkaufs-Hotspot Interlaken mitten in den Schweizer Bergen vielleicht das bizarre Ergebnis des eidgenössischen Freisinns ist.